Ländliche Gesellschaft und digitale Geschichtswissenschaften

Ländliche Gesellschaft und digitale Geschichtswissenschaften

Organisatoren
Christine Fertig, Universität Münster; Olaf März, Bremen; Niels Grüne, Universität Innsbruck; Arbeitsgemeinschaft Digitale Geschichtswissenschaft im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands
Ort
digital (Frankfurt am Main)
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2021 - 25.06.2021
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Von
Henning Bovenkerk, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Jahrestagung 2021 der Gesellschaft für Agrargeschichte (GfA) widmete sich dem aktuellen Thema der Relevanz digitaler Tools und Methoden in der Agrargeschichte. In seiner Begrüßung dankte der Vorsitzende der GfA Niels Grüne (Innsbruck) Christine Fertig und Olaf März für die Konzeption der Tagung und drückte seine Freude über die vielversprechende Kooperation mit der AG Digitale Geschichtswissenschaft aus. In deren Namen hieß Katrin Moeller (Halle-Wittenberg) die Teilnehmenden willkommen. Sie betonte die wachsende Bedeutung digitaler Arbeitsweisen, die nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie verstärkt wurde, und zeigte sich gespannt auf die wichtigen Diskussionen über die Nützlichkeit, aber auch die bestehenden Baustellen digitaler Geschichtswissenschaft.

Die inhaltliche Einführung übernahm Olaf März (Bremen), der die lange Tradition technischer Informationsmittel in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen herausstellte, die sich in den letzten Jahren in Form der Digitalisierung zum nachhaltigen Trend entwickelt hat. Die Erzeugung und Verwendung von genuin digitalen Daten habe einen Transformationsprozess der Forschungsinfrastrukturen in Gang gesetzt, wie er beispielhaft in der Digitalisierung von Altbeständen und den Vorbereitungen auf die Übernahme rein digitaler Quellen in Archiven sichtbar werde. Aufbauend auf diesen Entwicklungen habe sich die GfA entschlossen, den Stand und die Perspektiven des digitalen Arbeitens in der Agrargeschichte erneut zu beleuchten: Bereits seit den 1960er- und 1970er-Jahren verwende auch die Agrargeschichte, im Kontext der sich etablierenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte, digitale Hilfsmittel und Methoden. Durch den technischen Fortschritt unterstützten digitale Hilfsmittel mittlerweile neben den quantitativ-statistischen auch an kulturhistorische Fragestellungen anknüpfende Projekte in diesem Forschungsgebiet. Die infrastrukturelle Grundlage seien dabei nach wie vor Datenbanken, wobei wichtigste Aufgaben für die Zukunft die Datennachhaltigkeit und Nachnutzbarkeit seien.

In der ersten Sektion thematisierte PETER MOSER (Bern) die vorher beschriebenen Herausforderungen für Archive. Moser präsentierte mit dem Archiv für Agrargeschichte (AfA) das erste virtuelle Archiv der Schweiz, das in hybrider Form analoge und digitale Archivalien und Angebote bereitstellt, und damit eine Perspektive, wie digitale Archive und ihr Angebotsprofil sich in Zukunft darstellen können. Nach einem kurzen historischen Abriss zur Entstehung des Archivs, ausgehend vom Paradigmenwechsel, dem shift away from history in den 1990er-Jahren, über die Gründung 2002 bis zu seiner heutigen Form, beschrieb er dessen drei Aufgabenbereiche: die aktive Suche und Archivierung von Quellenbeständen in digitaler Form, die Forschung zur Agrargeschichte mit diesen Quellen und den erstellten Datenbänken und die strukturierte Dokumentation der Arbeit des Archivs. Darüber hinaus bietet das Archiv unterschiedliche Online-Portale, durch die Aktenbildner, (staatliche) Archive und Forschende zur Agrargeschichte sich vernetzen können.

JOSEFINE HONKE (Konstanz) erläuterte in ihrem Vortrag, wie mit Videos der Internetplattform Youtube Vergangenheitsnarrative untersucht werden können, und präsentierte damit einen neuen (medien-)historischen Zugang zur Geschichte des ländlichen Raums. An zwei Beispielen von Amateurvideos zu Zeitzeugeninterviews aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zeigte sie die historischen Dimensionen dieser Medien und wie sie Vergangenheitsversionen konstruieren. Sie konzentrierte sich in ihrer Analyse auf das Konzept des kommunalen Gedächtnisses, das eine Meso-Ebene zwischen familiärem und kulturellem Gedächtnis darstelle und bisher zu wenig beachtet worden sei. Diese müsse aber mehr in den Fokus genommen werden, da die Videos, die eines der wichtigsten Medien für Jugendliche seien, auf die Erzeugung oder Festigung dieses Gedächtnisses abzielten, etwa durch das Setting der Videos, ihre lokale Verortung oder die Sprache der Beteiligten. In diesem Kontext zeigte Honke, dass die Beschreibungen der Zeitzeugen in den Interviews bestimmten übergeordneten Narrativen folgten. Vor allem die eigene Identifikation als Opfer gegenüber dem NS-Regime oder den Alliierten stehe im Vordergrund der Interviews. Honke legte die Problematik dieser Opfernarrative und opferzentrierten Perspektiven offen, genauso wie sie quellenkritisch das Fehlen von Stammdaten zu den Videos thematisierte.

Die zweite Sektion zeigte den Nutzen und Gewinn beim Einsatz von Geoinformationssystemen (GIS) in der Agrargeschichte. GÁBOR DEMETER (Debrecen) stellte in seinem Vortrag die Arbeit der Forschergruppe Ten Generations vor, die ihr Ziel, die Geschichte der ungarischen Landbevölkerung darzustellen, mit der Erstellung einer Datenbank und der GIS-gestützten Visualisierung der Rohdaten in Form von Karten verfolgt. Das großangelegte Projekt gewinnt die dafür benötigten Daten aus unterschiedlichen Quellen zur Staatenkunde Ungarns, Volkszählungen sowie aus historischen, georeferenzierten Karten. Neben den Problemen, etwa bei der Vektorisierung und Georeferenzierung der historischen Karten, zeigte Demeter am Beispiel einiger vorläufiger Ergebnisse das große Potential der Visualisierung der umfassenden Datenbank durch die erstellten Karten. Mit ihr lassen sich soziale, demografische und wirtschaftliche Entwicklungen der ländlichen Bevölkerung Ungarns über einen Zeitraum von 300 Jahren auf der Siedlungsebene visualisieren und für die agrarhistorische Forschung nutzbar machen.

Ebenfalls mit georeferenzierten Karten setzte sich OLAF MÄRZ auseinander. Mit der Integration kartografischen und seriellen Datenmaterials der braunschweigischen Landesaufnahmen des 18. Jahrhunderts konnte er die Komplexität frühneuzeitlicher landwirtschaftlicher Praxis analysieren und visualisieren. Gleichzeitig konnte er auf dieser Grundlage die räumliche Verflechtung einzelner Haushalte oder Einwohnergruppen mit dem landwirtschaftlichen Sektor des Ortes und stadt- und siedlungstopografische Beobachtungen vornehmen. März verdeutlichte dies an Beispielen verschiedener Orte des Braunschweiger Weserdistrikts, in denen er die unterschiedlichen Zelgen- und Besitzsysteme und die topografischen Übergänge von Dörfern, Flecken und Siedlungen aufzeigte. Ähnlich wie Demeter beschrieb auch März die Probleme bei der Georeferenzierung von historischen Karten, etwa das, geeignete Passpunkte zu finden. Obwohl der Erkenntnisgewinn mit GIS enorm sei, sprach sich März dafür aus, einen Mixed-methods-Ansatz aus technisch-digitalen und hermeneutischen Arbeitsweisen zu verfolgen.

Zu Beginn der dritten Sektion erläuterte HENNING BOVENKERK (Münster) den Workflow zum Aufbau und zur Auswertung einer Datenbank aus Nachlassverzeichnissen des Münsterlandes. Er gab einen Einblick in die digitalen Hilfsmittel, die bei den einzelnen Arbeitsschritten – Datengenerierung, Datenbereinigung/-management und Auswertung – verwendet wurden. Dabei zeigte er Schwächen der Tools auf, verdeutlichte aber auch die Arbeitserleichterungen und Vorteile, die durch die digitalen Werkzeuge erzielt werden konnten.

Nachlassverzeichnisse als Quellengrundlage nutzt auch das Projekt „Reading in the Alps“, das MICHAEL SPAN (Innsbruck) vorstellte und das auf die systematische Erforschung des Buchbesitzes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Südtirol zielt. Es nutzt eine Datenbank mit Informationen aus Verfachbüchern und Gerichtsprotokollen aus drei Gerichten des Pustertals, um die sozialen und ökonomischen Faktoren des Buchbesitzes offenzulegen. Der Datenbankaufbau erfolgte mit verteilten Rollen: Während das Quellematerial von einem Historiker aufbereitet wurde, oblag die Erstellung und Anpassung der Datenbank einem Entwickler. Im Zusammenhang mit der Aufnahme der relevanten Informationen in das Datenbanksystem erläuterte Span auch das Vorgehen zur Identifikation und Disambiguierung von in den Quellen genannten Personen und Institutionen unter Zuhilfenahme von Named Entity Recognition. Die nach der Fertigstellung jetzt online greifbare Datenbank kann und soll zudem für die Lehre verwendet werden.

Die Disambiguierung von Berufsbezeichnungen war Teil des Vortrags von KATRIN MOELLER über die „Ackerbürgerstadt“ des 18. Jahrhunderts. Sie erläuterte die Problematik bei der Darstellung der Ontologie der historischen deutschsprachigen Amts- und Berufsbezeichnungen, deren Datenbank online zugänglich ist. Die Ontologie nutzte sie, um automatisiert Erwerbs- und Berufsbiografien der Bevölkerung Halles an der Saale zu entwickeln und um basierend auf den Ergebnissen der Frage nachzugehen, wie sich die Berufsstruktur von 1670 bis 1820 entwickelte. Ihre ontologische Analyse zeigte, dass das agrarische Element der Stadtwirtschaft möglichweise erheblich unbedeutender war, als es in der Stadthistoriografie überliefert ist („Ackerbürgerstadt“) und dass dieser primäre Sektor mit einer Vielzahl von landwirtschaftlichen Spezialberufen und -tätigkeiten erheblich differenzierter war als angenommen.

In der Abschlussdebatte wurde ebenso wie jeweils nach den Vorträgen über die behandelten Thematiken und den größeren Kontext der digitalen Geschichtswissenschaft diskutiert. Dabei kristallisierte sich vor allem die Herausforderung der nachhaltigen Bereitstellung und Nachnutzbarkeit der Datenbanken heraus. Auch wenn es Lösungsansätze gebe, bestehe weiterhin die Schwierigkeit, dass durch die befristete Anlage von Projekten der spätere Zugang zu den erarbeiteten Daten oft nicht gewährleistet sei. So existiere von verschiedenen abgeschlossenen älteren Studien noch digitales Material, das nicht mehr zu nutzen sei, und die Frage kam auf, ob dieses beispielsweise mit einem eigenen Projekt gesichert werden könne. Gleichzeitig hätten laufende Vorhaben oft das Problem, dass zu wenig finanzielle wie zeitliche Ressourcen verfügbar seien, um die Daten öffentlich bereitzustellen. Positiv vermerkt wurde, dass bei der Beantragung neuer Projekte die Nachnutzbarkeit in der Planung berücksichtigt und ausgewiesen werden müsse. Zusätzlich wurden Möglichkeiten erörtert, ob und wie im Rahmen der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur eine bessere Nachnutzbarkeit erreicht werden könnte.

Im Anschluss überreichte Niels Grüne mit kurzen Laudationes den im zweijährigen Rhythmus von der GfA verliehenen Förderpreis Agrargeschichte, der 2021 aufgrund der hohen Qualität der Bewerbungen geteilt wurde. Preisträger:innen sind Gunnar Lehmann (Göttingen) für seine Masterarbeit „Landschaftswandel in Brandenburg im Kontext sozialistischer und postsozialistischer Transformation“ und Katharina Wohlfart (München) für ihre Masterarbeit „Zwischen ländlicher Idylle und weiblicher Professionalisierung. Die Wirtschaftliche Frauenschule auf dem Lande in Miesbach in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“.

Konferenzübersicht:

Niels Grüne (Universität Innsbruck), Christine Fertig (Universität Münster), Katrin Möller (Universität Halle-Wittenberg), Olaf März (Bremen): Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Agrargeschichte virtuell? Forschung mit digitalen Quellen

Moderation: Olaf März

Peter Moser (Archiv für Agrargeschichte, Bern): Vom „shift away from history“ im Archivbereich zur Re-Kombination von Archivierung und Forschung. Die schöpferische Kraft der Digitalisierung im Bereich der rural history

Josefine Honke (Universität Konstanz): YouTube-Videos als Erinnerungsmedien des „kommunalen Gedächtnisses“

Sektion 2: Der ländliche Raum: Historische Forschung mit GIS

Moderation: Christine Fertig

Gábor Demeter (Ungarische Akademie der Wissenschaften, Debrecen): GIS-aided database-building to visualize the long-term socio-economic transformation of the Hungarian peasantry and land-use changes from 1720 to 1920

Olaf März (Bremen): Flurforschung digital. Pfade der räumlichen Rekonstruktion historischer Agrarflächen des 18. Jahrhunderts

Sektion 3: Forschungsdaten: Erfassung, Management, Auswertung

Moderation: Katrin Moeller und Niels Grüne

Henning Bovenkerk (Universität Münster): Quantitative Agrargeschichte und digitale Hilfsmittel. Der Einsatz digitaler Werkzeuge in der agrarhistorischen Forschung

Michael Span (Universität Innsbruck): Von der Verlassenschaftsabhandlung zur Datenbank. Eine digital unterstützte Untersuchung der frühneuzeitlichen „Massenquelle“ Inventar

Katrin Moeller (Universität Halle-Wittenberg): Wie ländlich war die „Ackerbürgerstadt“ des 18. Jahrhunderts? Digitale Werkzeuge der Massendatenanalysen zur Rekonstruktion von Berufs- und Erwerbsbiografien im Forschungstest

Verleihung des Förderpreises Agrargeschichte an Gunnar Lehmann (Göttingen) und Katharina Wohlfart (München)


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